Von der autoritären zur demokratischen Erziehung: Erziehungsziele und -stile im Wandel

Schon Ende des 19. Jahrhunderts und im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts gab es unter der Sammel-Bezeichnung „Reformpädagogik“ eine weltweite Bewegung, die verschiedene neue Konzepte zur Reform von Schule, Unterricht und allgemeiner Erziehung vertrat.

Die Ansätze richteten sich gegen die damals vorherrschende „Paukschule“, gegen den bürgerlichen Bildungsbegriff, der mit der Lebenswirklichkeit der meisten Menschen nicht mehr viel zu tun hatte, und gegen den Autoritarismus in der Erziehung.

Pädagogik im Aufbruch: die Reformpädagogik

Selbsttätigkeit, Lernen durch eigene Anschauung, Erfahrung und Erleben waren wichtige Prinzipien dieses pädagogischen Aufbruchs. Einige der bekanntesten Reformpädagogen sind John Dewey (Demokratisierung der Pädagogik), Hermann Lietz (Landerziehungsheim-Bewegung), Georg Kerschensteiner (Arbeits- und Berufsschule), Alfred Lichtwark (Kunsterziehungs-Bewegung) Anton Semjonowitsch Makarenko (Kollektiverziehung), Maria Montessori (Selbsttätigkeit nach dem Motto „Hilf mir, es selbst zu tun“), Rudolf Steiner (Waldorfschulen) und Alexander Sutherland Neill (Summerhill).

A.S. Neill wird in Deutschland immer wieder mit der „antiautoritären Erziehung“ in Verbindung gebracht, da die deutsche Übersetzung eines seiner Werke unter dem irreführenden Titel „Theorie und Praxis der antiautoritären Erziehung" erschien. Die Studentenbewegung vereinnahmte ihn deshalb auch als den Pionier und Fürsprecher der „antiautoritären Erziehung“, der er nie war. Vielmehr war und ist seine Schule „Summerhill“ die erste demokratische Schule, die 1921 in England gegründet wurde. In Deutschland ist Hartmut von Hentig mit der von ihm gegründeten Bielefelder Laborschule der bekannteste gegenwärtige Vertreter der demokratischen Erziehung.

Zwar brachte die Reformpädagogik viel frischen Wind in den vermufften Erziehungsapparat, der Wind erreichte jedoch – wie meist – erst einmal nur einige aufgeschlossene Köpfe. Gesamtgesellschaftlich änderte sich wenig an der Erziehungswirklichkeit. Im Nachkriegsdeutschland herrschte bis in die 60er Jahre noch weitgehend gesellschaftliche Übereinstimmung über Erziehungsziele: Erziehung zielte vorwiegend auf „preußische“ Tugenden wie Gehorsam, Disziplin, Fleiß, Pünktlichkeit. Der bevorzugte Erziehungsstil war autoritär. Die Ausübung körperlicher Gewalt gegen Kinder war als Erziehungsmaßnahme gesellschaftlich anerkannt und verbreitet.

Was haben uns die 68er-Generation gebracht?

Erst mit der Studentenrevolte, die Schluss machen wollte mit dem verhassten „Muff von tausend Jahren“, begann man auch wieder die hergebrachten Erziehungsziele und -stile radikal zu hinterfragen.

Es war die Zeit des Vietnam-Kriegs, es war die Zeit der aktiven Auseinandersetzung mit der Haltung der Väter zum und im Nationalsozialismus. „Nie wieder Auschwitz, nie wieder Krieg!“, das forderte nach Meinung der 68er-Generation auch eine andere Erziehung. Bedingungsloser Gehorsam, Pflichterfüllung … das waren Tugenden, mit denen sich Kriege führen ließen und mit denen man auch ein KZ trefflich leiten konnte. Eine autoritäre Erziehung könne nur einen autoritären Charakter hervorbringen.

Kritikfähigkeit statt Kadavergehorsam, Selbstbestimmung statt Fremdbestimmung, „Erziehung zur Mündigkeit“ (Adorno), lauteten die pädagogischen Forderungen vor dem Hintergrund der brennenden Fragen der Zeit. Eine Antwort darauf war die antiautoritäre Erziehung, die – wie oben ausgeführt – fälschlicherweise mit A.S. Neill in Verbindung gebracht wurde. Es folgte eine Zeit des erzieherischen Experimentierens mit antiautoritären Erziehungsformen – übrigens in kleinem Rahmen, wenn auch teilweise mit großer pädagogischer Überheblichkeit und ideologischer Verblendung. Ging man doch davon aus, man könne durch eine andere Erziehung nicht nur den neuen besseren Menschen schaffen, sondern auch eine neue, gerechte sozialistische Gesellschaft – eine maßlose Überschätzung der Möglichkeiten von Erziehung! So muss sich die 68er-Bewegung durchaus den Vorwurf gefallen lassen, bei ihren Vorstellungen über Erziehung mehr vom politisch Wünschbaren als von der tatsächlichen Beschaffenheit und Verfassung des Kindes, seinen Bedürfnissen und Entwicklungsmöglichkeiten ausgegangen zu sein.

Der uneingeschränkten Autorität der Erzieher und dem Ziel, den kindlichen Willen zu brechen – auch mit körperlicher Gewalt – setzten die 68er eine Haltung entgegen, die zwar den kindlichen Willen über alles respektierte, das kindliche Bedürfnis nach Orientierung bietenden Grenzen aber negierte. Doch auch wenn Kritiker heute die 68er mit ihren Erziehungsidealen gerne für den gegenwärtigen angeblichen Erziehungsnotstand der Nation verantwortlich machen – genauso übrigens wie für Jugendkriminalität, Rechtsradikalismus und viele andere Missstände, deren Ursachen in einem eher gesamtgesellschaftlichen Versagen zu suchen sind – so wurden durch die 68er die Weichen für eine „demokratische Erziehung“ neu gestellt.

Das bestreiten auch die Kritiker nicht:
„Ohne Zweifel hat die "68er"-Bewegung viele tatsächliche Missstände aufgegriffen und thematisiert. Eine Erziehung, die nur auf Gehorsam setzt, die nicht erklärt und hierarchisch strukturiert ist, birgt die große Gefahr von Autoritätshörigkeit und Abhängigkeitsprozessen. Es waren sicherlich Veränderungen notwendig.

Viele Ziele waren im Kern sinnvoll:

  • das Kind als eigenständige Persönlichkeit wahrzunehmen
  • dem Kind mit einer annehmenden, liebevollen Haltung zu begegnen
  • Erklärung und Transparenz statt puren Gehorsams
  • Fähigkeit zur Kritik;
  • konstruktive Kritik als Möglichkeit der Auseinandersetzung, nicht als Bedrohung oder
  • Ungehorsam zu betrachten

Ohne diese Aspekte wäre eine "Liberalisierung" von Erziehungsprozessen schwerlich möglich gewesen. Dies hatte auch positive Auswirkungen auf die bundesrepublikanische Gesellschaft. Das Hinterfragen von scheinbar Selbstverständlichem oder die konstruktive Kritik als Bereicherung des demokratischen Systems zu verstehen, sind Grundhaltungen, die eine Art Versicherung für den Fortbestand einer demokratischen Ordnung darstellen.

Dennoch sind die "68er" auch in dem Punkt der Veränderung von Erziehungsprozessen maßlos über das Ziel hinausgeschossen. Aufhebung von autoritären Strukturen ist eben nicht gleichzusetzen mit Grenzenlosigkeit.

Gerade wenn man ein Kind ernstnehmen will und ihm annehmend begegnen möchte, ist es wichtig, es auch in seiner noch nicht abgeschlossenen Entwicklung zu betrachten. Ein Kind wirklich zu verstehen, heißt eben auch, seinen Wunsch nach Grenzen zu begreifen. Gerade die jüngste pädagogische Forschung betont, welch immense Gefahren in der nicht rechtzeitigen oder mangelhaften Grenzziehung in der Erziehung liegen. …“ (1)

Dazu Ekkehard Kloehn:
"Grenzenloses Gewähren und hemmungsloses Erfüllen kindlicher Bedürfnisse aber ist als das andere Extrem ebenso verhängnisvoll. Denn hier wird das Kind überfordert. Man verlangt etwas von ihm, was es noch nicht kann: sich selber Grenzen zu setzen."(2)

(1) 30 Jahre "68er"-Bewegung:Ihre Ziele – Ihr Scheitern – Geistiger Neuaufbruch
zitiert nach www.ju-niedersachsen.de
 (2) Ekkehard Kloehn, Schwierige Kinder, Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, 1981, S. 43 f.

 

Kindererziehung

Nie zuvor war die Verunsicherung über Erziehung größer als heute. Gerade weil wir alles richtig machen wollen, sind wir orientierungsloser denn je.

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